Artikel: Thüringer Allgemeine erschienen: 05.08.2017 Autor: Gerald Müller
Mario Goldstein wandert 763 Kilometer auf dem Grünen Band in Thüringen. Unser Reporter hat ihn ein Stück des Weges begleitet.
MarioGoldstein putzt seine Schuhe. "Ich glaube, das ist das erste Mal seit 35 Jahren", sagt er in Richtung Hans. Der war für die letzte Nacht sein Gastgeber auf dem Geißenhof inIrmelshausen. Direkt neben dem Stall, in einem alten grauen Wohnwagen, hat MarioGoldstein ein trockenes Quartier beim Bio-Bauern gefunden, der mehrere Hektar Land bewirtschaftet und etwa 100 Ziegen hat. "Ansonsten hätte ich nach dieser nassen Nacht wohl wie ein alter Lappen am Zaun gehangen", verpackt Mario mit lautem Lachen sein herzliches Dankeschön. Hans, ein in die Jahre gekommener Hippie, gießt Kaffee in den Pott und ermuntert seinen Gast: "Nimm richtig Lederfett. Vor allem vorn an der Spitze. Sonst sind die Schuhe gleich wieder durchnässt".
Es ist das Ersatzpaar. Beim ersten sind die Sohlen abgelaufen. Rund 360 Kilometer hat MarioGoldstein bisher absolviert. Von insgesamt 763. So lang ist der Streifen des Kolonnenweges inThüringen, die ehemalige innerdeutsche Grenze, die er wandernd durchqueren möchte. Als Botschafter vom BUNDThüringen, der das Grüne Band gern als Naturmonument ausgewiesen hätte. Das würde einen besonderen Schutz für ein außergewöhnliches Gebiet bedeuten, das auf wundervolle Weise deutsche Geschichte mit unberührter Natur, gekennzeichnet von seltenen Pflanzen und Tieren, verbindet.
Am 13. Juli ist MarioGoldstein in Ostthüringen am Dreistaatenstein in der Nähe vom einst getrennten OrtMödlareuth gestartet, am 5. September möchte er an jenem Punkt ankommen, wo das Grüne BandThüringen verlässt.
Rund 10 Kilometer begleite ich ihn auf dem Kolonnenweg. Oftmals ist dieser nur zu erahnen, aber nicht zu sehen, weil Gräser und Sträucher auf ihm wuchern, Moos den Beton bedeckt. Zum Glück hat MarioGoldstein sein Navigationsgerät dabei, dass er in diesen Stunden oft benutzt. "Ja, ursprünglich hatte ich mir den Weg auch anders vorgestellt, es gibt immer wieder Passagen, in denen er kaum erkennbar ist". Als er mit seinem Stock das Gestrüpp beiseite schiebt, verhindert ein Elektrozaun plötzlich das Weiterkommen. "Da müssen wir durch", meint Mario, wobei er das "wir" vor allem in Richtung von Schäferhündin Sunny sagt, die tags zuvor bei einer ähnlichen Situation ängstlich reagierte.
MarioGoldstein nimmt den Haltegriff, unterbricht kurz den Stromlauf, sodass wir ohne Zuckungen durchlaufen können. Allerdings schaue ich immer wieder nach links, mindestens ein Dutzend Kühe steht auf der Weide. "Ist auch ein Bulle dabei?", frage ich, um zu ahnen, dass Mario die Antwort ebenfalls nicht kennt. Auf sein "ich weiß nicht", erhöhe ich das Tempo und bin froh, als wir wieder auf dem eigentlichen Kolonnenweg sind.
Wenige Minuten später bittet Mario um eine Pause. Nicht, weil der Körper danach schreit. Was angesichts der schon hinter ihm liegenden Strapazen mit zahlreichen Höhenmetern und dem Schleppen des 20-Kilo-Rucksacks keine Schande wäre. Doch er hält an, um den Durst von Sunny zu stillen und das Stativ aufzustellen. Er macht Fotos, die er später in seiner Multivisionsshow zeigen will. Weit über 1000 Bilder hätte er schon.
"Bisher", so MarioGoldstein, "halten sich die Leiden wirklich in Grenzen. Ich trainiere ja auch täglich", sagt er mit Stolz in der Stimme. Allerdings würde es vom Kopf abwärts immer schlimmer werden. "Die Schultern tun etwas weh, auch die Hüften, die Oberschenkel brennen manchmal, am meisten spüre ich jedoch die Fersen". Vor allem am Morgen. "Kenne ich", sage ich, "das sind die Achillessehnen, das wird besser, der Schmerz lässt nach", Das scheint ihn zu beruhigen.
Noch nicht eine einzige Sekunde hätte er an ein Aufgeben gedacht. Trotz teilweise miserablen Wetters, fast immer nasser Socken, manchen Nächten, in denen der Regen stundenlang auf das Zeltdach prasselte.
Heute Treffen mit Ministerin Siegesmund
Insofern war der tapfere Wandersmann glücklich, wenn er mal in einer Pension Halt machen konnte oder eine private Einladung erhielt. Wie inRudelsdorf. Als er aus dem Brunnen schöpfen wollte, mahnte die Stimme im Hintergrund: "Nein, das ist kein Trinkwasser". Das bekam er dann bei Helmut, einem 71-Jährigen. Dazu statt Dosennahrung mal ein leckeres Abendbrot und einen Liegeplatz mitten auf dem Küchenboden. "Wir haben bis in die Nacht geredet. Solche Treffen bleiben unvergessen". Aber er hätte auch keine Probleme mit Einsamkeit und Stille. Die findet man auf dem Kolonnenweg. Uns begegnet dort kein einziger Mensch. "Ja, da ist die Regel", so Mario.
Für ihn ist das Wandern an der ehemaligen Grenze auch eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit, er ist zurückgekehrt zu seiner Geschichte. Der einstige Todesstreifen soll für ihn zu einer Art Lebenslinie werden. Drei Fluchtversuche aus derDDR hat der gelernte Baufacharbeiter im Alter zwischen 15 und 18 unternommen, "weil der Drang nach Freiheit stärker als die Angst war". Sie scheiterten jeweils, er musste viele Monate ins Gefängnis, wurde schließlich von der Bundesrepublik freigekauft. Auch danach verlief das Leben des nun 46-Jährigen abenteuerlich .
Kurz nach der Jahrtausendwende verkaufte der gebürtige Oelsnitzer Hab und Gut, verließDeutschland, schipperte aufs Meer hinaus, lebte sieben Jahre auf einem Katamaran. Später fuhr er im Floß den Yukon-Fluss hinab, segelte ohne Erfahrung über den Indischen Ozean, tuckerte mit einem Wasserwerfer der Polizei nachIndien zumDalai Lama und übergab ihm Friedensbotschaften.
"Mich hat es immer in die weite Welt getrieben". Nun sei er froh, auch das Schöne in der Nähe genießen zu können und auf jenem Streifen zu wandern, den er flüchtend überwinden wollte. "Manchmal passiert das auch mit Tränen und Wut. Aber ich bin froh, das aufarbeiten zu können".
Es passiere jedenfalls eine Menge in seinem Inneren. Manchmal denkt er nur sehnsüchtig an einen Schluck Wasser, "wenn der steile Anstieg wieder gen Himmel geht". Schon wenig später kreisen Themen wie die Flüchtlingsproblematik durch den Kopf.. "Ich arbeite mit mir", sagt MarioGoldstein und bezeichnet den Marsch als eine Art meditative Einzel-Therapie. "Aufmerksam beobachte ich, wie ich die Langsamkeit als etwas Faszinierendes entdecke". Kein Handy, kein Reden, kein Nichts, "nur die Natur und ich". Früher sei er ein Ego-Typ mit Geld-Drang gewesen, "jetzt schätzte ich Kleinigkeiten, bin dankbar für die Hilfe von anderen". Eine Beutelsuppe auf einer blühenden Wiese dazu ein Becher Wein, das sei wundervoll gewesen, schwärmt er.
Thüringen hätte ihm schon immer gefallen, "aber was ich jetzt sehe und erlebe, ist einfach toll". Er sei kein Kenner der Natur, aber die Vielfalt an Pflanzen und Tieren sei grandios. Es zischt neben uns im Schilf , abwechselnd zählen wir auf, welcher davonfliegende Vogel das wohl gewesen sein könnte. Ohne zu wissen, ob wir einen Treffer gelandet haben. Neben uns, das Gras ist meterhoch, flattern die Schmetterlinge. Doch wir sehen den Grenzturm unmittelbar am Fluss, einige Meter später steht eine der wenigen Informationstafeln. "Die dritte Woche ist nun vorbei. Ich sage mir oft, Goldi du hast einiges gelernt".
Aber er hat auch noch Fragen. Beispielsweise die, wie das Grüne Band für die Allgemeinheit interessanter gemacht werden kann. Die wird er heute auch der Thüringer UmweltministerinAnja Siegesmund (Grüne) stellen, die er zwischenMendhausen undBehrungen trifft. MarioGoldstein ist jedenfalls gern wandernder Botschafter, er bezeichnet sich selbst als "Freiträumer" und lebt dieses Gefühl auch zu Hause in Plauen.
Er freut sich über den Besuch der Ministerin. Der sei eine Abwechslung: "Denn der Weg und ich sind ja praktisch immer allein". Das ist er dann auch wieder, als ich "Tschüss" sage. Ich schaue nach der Umarmung auf seine Schuhe. Die könnten wieder Fett gebrauchen. "Klar, die werde ich putzen" , sagt Mario Goldstein und wandert weiter.